Nachbarschaft neu gedacht

In der Großstadt brodelt das Leben – doch es gibt auch Anonymität und Vereinzelung. Dabei wird Nachbarschaft auch in den Metropolen gelebt. Aber nicht in allen Quartieren und nicht von allen Stadtbewohner:innen auf die gleiche Art und Weise. Was Nachbarschaft bedeutet und welche Rolle sie für das soziale Netz der EinwohnerInnen spielt, erforscht die Soziologin Talja Blokland in Berlin.

Ein älterer Mann bricht auf dem Gehsteig einer belebten Einkaufsstraße zusammen, Passanten eilen zu Hilfe. Eine Frau, offenbar Ärztin, steigt spontan aus dem Taxi und prüft, ob Lebensgefahr besteht, während ein Ladenbesitzer einen Stuhl auf die Straße trägt und ein Glas Wasser reicht, damit der Mann in Ruhe zu sich kommen kann. Eine Großstadtszene, die sich überall zutragen könnte. Tatsächlich ereignete sie sich in Berlin-Neukölln – einem dicht besiedelten, traditionellen Arbeiterbezirk im Südosten Berlins, wo heute türkischstämmige und andere alteingesessene Neuköllner auf Hipster aus der ganzen Welt und auf neu Zugewanderte aus Syrien und anderswo treffen. Wahrscheinlich werden die Protagonisten dieser Straßenszene nie wieder aufeinander treffen, nie wieder miteinander sprechen. Das ist die Anonymität der Großstadt. Trotzdem hat sich in diesen Momenten bei den Beteiligten vermutlich ein Gefühl von Vertrauen in die Nachbarschaft und die eigenen Nachbarn eingestellt.

Treffpunkt im Kiez, Foto: Falk Weiß

Wie entsteht Nachbarschaft in der Stadt?

Für Talja Blokland knüpfen gerade solche zufälligen oder flüchtigen Begegnungen zwischen Menschen, die unterwegs sind in der Stadt, die Bande, aus denen ein Gefühl von Zugehörigkeit entsteht. Im Projekt „Die Welt in meiner Straße – Ressourcen und Netzwerke von Stadtbewohner/-innen“ untersucht sie, wie Berliner:innen in verschiedenen Kiezen Nachbarschaft erleben. „In der Alltagssprache sprechen wir über Nachbarschaft, als ob es Beziehungen sind, die von vornherein festgelegt sind. Mich interessiert, wie sich die räumliche Umgebung eines Quartiers und das Gefühl von Zugehörigkeit zueinander verhalten. Welche Art von Netzwerken entstehen und wie wichtig ist geografische Nähe?“, fragt die Professorin für Stadt- und Regionalsoziologie.

Gemeinsam mit Ihrem Team aus Sozialwissenschaftler:innen und studentischen Mitarbeiter:innen befragte sie 572 zufällig ausgewählte Berliner:innen in vier verschiedenen Stadtquartieren; in einer ersten Runde 2018 persönlich, dann 2020, zu Beginn des pandemiebedingten Lockdowns, ein zweites Mal online. Dabei wurden die Berliner Stadtquartiere so ausgewählt, dass sie für bestimmte Typen von Nachbarschaften stehen. Um die Identität der Befragten zu schützen, wählte die Forscherin für sie fiktive Namen: Hier das gepflegte, von jeher bürgerliche „Dorsten Hights“: ein stabiles Mittelschichtsquartier im Bezirk Steglitz-Zehlendorf; dort das ebenfalls am Stadtrand, aber im Ostteil der Stadt gelegene „Apolda Springs“ im Bezirk Marzahn-Hellersdorf mit eher niedrigen Einkommen. Dieses Quartier hat sich anders als „Dorsten Heights“ seit der Wende stark verändert und der Wandel geht weiter, genauso wie im innerstädtischen Quartier „Borkum Rock“ im Bezirk Neukölln, in das seit vielen Jahrzehnten Migranten zuziehen und das heute Anziehungspunkt für junge Menschen aus dem In- und Ausland ist. Am markantesten verändert hat sich wohl der vor der Wende in der DDR gelegene zentrale Stadtviertel „Coswig Gardens“ im Bezirk Pankow – er ist für Berliner:innen, die bis in die 1990er Jahre dort lebten, kaum wiederzuerkennen.

Wohndauer allein schafft noch kein Zugehörigkeitsgefühl

Wie hängen nun Geschichte und Beschaffenheit dieser Stadträume mit dem Zugehörigkeitsgefühl der Bewohner:innen in den verschiedenen Kiezen zusammen? „Statistisch steigt zwar überall mit der Wohndauer das Zugehörigkeitsgefühl der Bewohneri:nnen“, stellt Blokland fest. „Aber dieser Zusammenhang ist je nach Quartier ganz unterschiedlich ausgeprägt.“

Die Auswertung der ersten Befragung zeigt außerdem, dass das Gefühl der Verbundenheit nicht nur davon abhängt, wie lange jemand im Quartier lebt, sondern auch davon, wie häufig die Bewonner:innen Läden und Cafés in der Nachbarschaft aufsuchen. So fühlen sich in der sozial relativ homogenen und stabilen Nachbarschaft in Steglitz-Zehlendorf neu Zugezogene relativ rasch heimisch, und diese Verbundenheit geht einher mit einer intensiven Nutzung der örtlichen Infrastruktur. Das heißt, die neuen Bewohner:innen sind zugleich Stammkunden in den lokalen Geschäften. Im heute ebenfalls bürgerlichen „Coswig Gardens“ verhält es sich anders: Hier hat die Nutzung der nachbarschaftlichen Infrastruktur nur geringen Einfluss auf das Zugehörigkeitsgefühl, genauso wie die Wohndauer. Auch wer neu ist, fühlt sich mit dem Kiez verbunden. „Ganz egal, ob ich gerade aus Amsterdam, Rio, München oder Prag gekommen bin. Dieser Typ Nachbarschaft, der hier entstanden ist, lässt sich von Mittelschichtsmenschen von überall her „lesen“, so Blokland. Dieses Mittelschichtsquartier ist nach ihrer Analyse so stark gentrifiziert, dass sich Bewohner von überall her damit identifizieren können.

Was macht eine gute Nachbarschaft aus? Foto: Falk Weiß

In dem Neuköllner Quartier und in Marzahn-Hellersdorf zeigen sich ganz andere Konstellationen: Hier fühlt sich zwar auch eher der Nachbarschaft verbunden, wer schon länger im Kiez lebt, aber gerade die Alteingesessenen, die die Veränderungen der letzten 25 bis 30 Jahre miterlebt haben, fühlen sich nicht zugehörig, wie die Auswertung von Blokland zeigt. „Hier gibt es nicht so viele infrastrukturelle Ankerpunkte, mit denen man seine Identität verknüpfen kann, und wenn sie da sind, dann sind sie sehr divers: der Döner-Laden und die Aleppo-Bäckerei neben der Berliner Eckkneipe und dem Hipster-Cafe.“

„Es kann nicht das eine Modell von Nachbarschaft geben, das überall funktioniert“

Die Ergebnisse machen zweierlei deutlich. Einmal bestätigen sie die These der Stadtsoziologin, dass sich nachbarschaftliche Verbundenheit nicht einfach dadurch einstellt, dass Menschen das Quartier mit derselben Postleitzahl bewohnen. Auch wenn in der Soziologie Nachbarschaft lange genauso beschrieben wurde: je länger ich in einer Nachbarschaft wohne, desto stärker die Bande. Auf der anderen Seite zeigen die ersten Untersuchungsergebnisse, dass die Frage, ob eine Nachbarschaft gut funktioniert, ob sich die Menschen zugehörig fühlen und zusammenhalten, stark mit der Geschichte dieser Kieze verbunden ist. „Es kann also nicht das eine Modell von Nachbarschaft geben, das überall funktioniert“, gibt Talja Blokland zu bedenken. Besonders deutlich zeigte sich das bei der zweiten Befragung, kurz nach dem Beginn des ersten Corona bedingten Lockdowns im Frühjahr 2020 , als Schulen, Sportplätze und Cafés von einem Tag auf den anderen geschlossen und Spielplätzen gesperrt waren.

Nachbarschaft bedeutet Zugehörigkeit, Foto: Falk Weiß

Wie in der ersten Interviewrunde wurden die Bewohner:innen der vier Stadtquartiere gefragt, was die größte Herausforderung für sie in den vergangenen Monaten gewesen sei und mit wem sie darüber gesprochen hätten. „Bei den Antworten haben wir eine Verschiebung gesehen. 2018 haben sieben Prozent geantwortet: Ich habe niemanden, mit dem ich über meine Probleme sprechen kann. In Mai 2020 hat sich der Anteil mit 19 Prozent mehr als verdoppelt.“ Wie lässt sich dieser Anstieg erklären, für welche Bewohner:innen war das Netzwerk, das sie sonst unterstützt, zusammengebrochen?

Lockdown in der Großstadt: soziale Netzwerke leiden

Um diese Frage zu beantworten, kombinierten die Sozialforscher:innen Daten zum Wohnraum, der den Bewohner:innen der verschiedenen Quartiere zur Verfügung steht, mit deren Aussagen zur Nutzung von Infrastruktur wie zum Beispiel Spielplätze oder Cafés vor den Corona bedingten Schließungen. „Wir haben gesehen, dass Menschen mit kleinen Wohnungen bestimmte Strategien hatten. Zum Beispiel haben Familien mit Kindern unter 14 Jahren Spielplätze häufiger genutzt als Menschen mit mehr Platz. Und die Menschen sind auch häufiger ins Café gegangen oder auf den Bolzplatz“, berichtet Blokland. Diese öffentlichen Plätze seien für viele Menschen die Orte gewesen, wo sie soziale Unterstützung erfahren, weil sie bei diesen eher zufälligen und beiläufigen Begegnungen auf Menschen treffen, mit denen sie über ihre Schwierigkeiten sprechen. Während des Corona-Lockdowns standen sie nicht mehr zur Verfügung, der alltägliche Austausch fehlte, das soziale Netz dieser Menschen bekam große Löcher.

Für den Wandel von Nachbarschaften und was sie für die Stadtbewohner:innen bedeuten, interessieren sich auch die beiden Doktorand:innen im Forschungsteam von Talja Blokland. Während Daniela Krüger den Wandel der Notfallversorgung durch Rettungsdienste und Krankenhäuser untersucht, widmet sich ihr Kollege Robert Vief der Frage, inwieweit Berliner Grundschulen Orte der Integration sind, wenn sich das soziale Gefüge in der Nachbarschaft verändert. Der soziologisch genaue und unvoreingenommene Blick der Forscher:innen auf die Stadt und ihre Bewohner:innen kann dazu beitragen, die Großstadt zu einem sicheren und lebenswerten Ort für alle zu machen – nicht nur in Zeiten der Pandemie.

Rettungsdienste kennen ihre Wohnviertel gut, Foto: Falk Weiß

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